Samstag, 17. Juni 2017

Normalstation/Notaufnahme # 2 Nachtdienst



Über meinen  zweiten  Nachtdienst möchte ich etwas ausführlicher berichten. Es war einer der krassesten Dienste in meiner jungen Karriere. Ab 17 Uhr sind wir nicht nur die Normalstation, sonder auch die Notaufnahme. Man könnte meinen, dass in einem kleinen Dorf in den Anden nichts passiert, doch fast jeden Abend kommen Notfälle herein… (was für ein Glück, dass es überhaupt ein Krankenhaus vor Ort gibt.) 

Die Übergabe war kürzer. Zum Glück weniger Patienten, nur noch 35 oder so. Mit mir waren wir zu 3 im Dienst. 20 Uhr erster Rundgang. 20.15 Uhr auf dem Flur wird es immer lauter. Warum sind auf einmal so viele Ärzte auf Station? Ich höre meine Kollegin telefonieren mit der Direktorin Martina. „Ich weiß nicht wie tief der Schnitt ist. Er ist am Hals. Es blutet unaufhörlich.“ Im Emergencia-Raum stehen 5 Ärzte um ein Mädchen mit 16 Jahren herum. Überall ist Blut zu sehen. Die Chirurgen, beide in ihren Sportkleidern, frisch vom Basketballtraining hergedüst, besprechen die OP. Das OP-Team wird einbestellt. Warten auf den Anästhesisten. 21 Uhr Not-OP beginnt. Weiter geht es mit dem Rundgang.

 21:30 Uhr Quechuaoma mit Verdacht auf Schenkelhalsbruch, Röntgenabteilung anrufen, Befund: eindeutig. Versorgung der älteren Dame mit genügend Schmerzmittel. Endlich schlief sie. Weiter mit dem normalen Betrieb. 

22:45 Uhr Hilferuf aus Zimmer 116. Patient liegt nur noch mit dem Oberkörper auf dem Bett. Infusionsschläuche stehen unter Spannung. Die Tochter beugt sich unter ihm. Keine Reaktion. Zu dritt mobilisieren wir ihn ins Bett. Reanimation. Die zuständige Ärztin wird  angerufen. Keine Pupillenrektion. Reanimation wird eingestellt, zu spät. Der Herr gibt, der Herr nimmt, sagte der Sohn, als er kam. Wie Recht er hat. Ich lerne, dass im Leben nichts selbstverständlich ist und wir immer genügend Gründe haben um Gott zu danken. Versorgung des Verstorbenen. 

2:00 Uhr Patientin kommt vom OP zurück. Sie schläft. Medikamenten richten für den nächsten Tag. Rundgang. 

4:00 Uhr Panik aus dem Emergencia-Raum. Die Patientin ist erwacht. „Er will mich umbringen. Mein Freund wollte mich umbringen.“ Unter Tränen und mit leiser Stimme erzählte sie mir die traurig Geschichte, die im kleinen idyllischen Andendorf geschah. Sie gingen spazieren, immer weiter weg vom Dorf. Sie hatte schon ein ungutes Gefühl, wollte  wieder nach Hause gehen. Er war wütend, weil sie nicht mit ihm nach Lima gehen möchte. Auf einmal packte er sie. Hielt ihr den Mund mit der Hand zu und flüsterte, dass sie nicht schreien soll und weiter laufen soll. Es kam zum Streit. Er packte sein Messer aus und rammte es ihr in den Mund. Der rechte Mundwinkel, die ganze linke Seite der Zunge und der Gaumen waren brutal zerfetzt. Da war der Schnitt am Hals fast noch das kleinere Übel. Die rechte Hand war mit betroffen. Sie wehrte sich. Auch hier  im kleinen Curahuasi macht das Schrecken kein Halt. Im Gegenteil… die Armut hat viele Schattenseiten.
Trotz all der traurigen Ereignisse in meinem zweiten Nachdienst  war ich innerlich froh und glücklich hier zu sein. Denn sie hat überlebt! Es waren genügend Ärzte da. Das Krankenhaus hatte genug Kapazität. Wir konnten vor Ort helfen! Wie ein Wunder schaffte sie es überhaupt ins Krankenhaus zu kommen.  Wie selbstverständlich rannten alle Ärzte aus ihrem Frei ins Krankenhaus, obwohl sie am nächsten Tag wieder normal zum Tagdienst kommen mussten.  Woher nehmen wir alle die Kraft und die Freude an der Arbeit und am helfen? Der Glaube kann Berge versetzten und kann Freude ins Herzen legen, wo nur Dunkelheit herrscht. Auch die Patientin ist Christin. Ich holte ihre Bibel aus dem Rucksack und las ihr vor. Gemeinsam beteten wir und dankten Gott, dass sie den Mordversuch überlebt hat. 
Es ist ein ganz besonders Krankenhaus, ein Krankenhaus voller Hoffnung für diese abgelegene Gegend, ein letzter Strohhalm für viele Quechuaindianer, eine humanitäre Hilfe, in dem Menschen behandelt werden, egal wie viel sie bezahlen können, ein professionelles Team für die Ärmsten, eine Mission mit Herz und Hand. 


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